16. Juni 2012 – Dritter Tag

Der nächste Tag, es ist Samstag, der 16. Juni, beginnt wieder einmal vor dem Aufstehen um 5:15 Uhr, denn heute heißt es Koffer packen. Das war unsere letzte Nacht auf Bitterroot, es folgen noch Shooting und Frühstück – dann müssen wir Abschied nehmen. Heute morgen ist der schwefelige Gestank in den Zimmern kaum auszuhalten, und ich bin mir ziemlich sicher, dass das Wasser dafür verantwortlich ist. Später befrage ich Gabriele dazu, die meint, dass das Wasser so aus dem Berg komme, aber trotzdem trinkbar sei. DAS will ich aber nicht mehr ausprobieren. Da die Rocky Mountains, an deren Rand wir uns immer noch bewegen, zum großen Teil aus metamorphem und magmatischem Gestein besteht und der Yellowstone Vulkan nur ca. 100-150 Meilen Luftlinie entfernt ist, scheint mir der Grund für den Schwefelgeruch hier zu finden zu sein.

Um 5:50 Uhr treffen wir uns mit Richard und seiner Frau Hadley auf dem Hof. Wir wollen heute ausnutzen, dass die gesamte große Herde gestern auf die große Hochplateau-Weide getrieben wurde. Richard hat Aztec gesattelt, einen hellen Falben mit noch hellerer Mähne, Hadley den Braunschecken Hiawatha. 

Wir fahren mit dem Auto schon einmal vor. Als wir am Gatter ankommen, stehen schon mehrere Pferde dahinter und warten darauf, in den Stall gebracht zu werden; die, die nicht direkt am Zaun stehen, halten sich zumindest in unmittelbarer Nähe auf. Von einigen Pferden werden wir direkt begrüßt, andere schauen misstrauisch aus der Ferne zu, was sich denn da wohl tut, denn dass Menschen kommen und das Gatter nicht sofort geöffnet wird, ist ungewöhnlich.  

  Als dann Richard und Hadley zu Pferd die Steigung hinaufkommen, machen sich die ersten aus dem Staub. Hier stimmt was nicht! Als die beiden dann auch noch berittenerweise Einlass in die Weide verlangen, treten die nächsten den Rückzug an – nur ein paar wenige scheinen nicht glauben zu können, dass sie auf den Stallgang noch warten müssen. In den nächsten ca. 75 Minuten bekommen wir dann geboten, was das Fotografen- und das Mädchenherz begehrt: Richard und Hadley treiben die Pferde zuerst ein wenig hin und her, dann bringen sie die gesamte Herde an das andere Ende der Koppel und schicken sie im Galopp über die ganze Strecke zurück – ein unglaubliches Bild vor dieser Kulisse mit den Bergen im Hintergrund, die sogar zum Teil noch schneebedeckt sind.            Als die Pferde wieder am Gatter ankommen, bieten sich gute Gelegenheiten für einige Bewegungsportraits, und auch die Reiter sind noch einmal ein tolles Motiv.       Dann konzentriert Gabriele sich noch einmal direkt auf die Reiter: Am Zaun entlang sollen sie auf uns zu oder von uns weg reiten – schön nebeneinander her. „Richard, Richard! Closer! More closer! Yes, great. Oh, no! Hadley: More closer!!“ Irgendwie ist ihnen das mit der Nähe beim Reiten nicht so ganz klar.     

Sie dürfen dann noch von rechts nach links und wieder zurück an uns vorbei reiten und sogar einen kleinen Sprung über einen Graben wagen bis Gabriele die Losung für die Portraits ausgibt. Also alle rauf auf die Weide und ran an das Geschehen. Außerdem hole ich Hadleys Hund aus dem Auto, den wir dort geparkt hatten, damit ihm auf der Weide zwischen den Pferden nichts passiert, und hebe ihn zu ihr auf’s Pferd. Hadley mit Hund und Richard, alle drei im Gegenlicht, Hadley nur mit Hund, Ausschnitte oder im Ganzen… Der Vielfalt an Bildern scheinen keine Grenzen gesetzt zu sein.  

      Die einzige Grenze setzt uns irgendwann das Licht, das heute besonders grell erscheint; außerdem müssen die Pferde langsam zurück zur Farm, denn die haben ja heute noch zu arbeiten und Hunger haben sie schließlich auch.       Wir verteilen uns noch einmal auf dem Weg, um den Abtrieb zu fotografieren, – schließlich müssen alle Chancen genutzt werden – wobei ich meine Stellung relativ weit oben am Weg wähle, denn ich muss das Auto wieder mit zurückbringen.       

Um 8:00 Uhr sitzen wir am Frühstückstisch und um 9:00 Uhr werden die Autos gepackt. Auf die Schnelle mache ich noch einige Fotos von unserem Haus, denn das hatte ich total vergessen. 

     Auf dem Hof laufen bereits die Vorbereitungen für die Ausritte, weshalb ich mich sputen muss, Hadley um die restlichen Pferdenamen bitten zu können. Ich ganz alleine, denn Gabriele hat noch etwas mit Mel zu klären. Aber es hat geklappt: alle Infos an Bord!

Um 9:30 Uhr rollen unsere Autos über die große Brücke von der Ranch herunter Richtung Dubois. Ich bin so voll und satt an Pferdebildern – ich bin völlig fertig. Nur ein ganz kleiner Wehrmutstropfen mischt sich unter die ganzen schönen Gefühle der letzten beiden Tage: Keiner der Reiter hat sich ernsthaft für unsere Fotos interessiert – niemand hat am Abend bei uns gesessen und mit uns Fotos geguckt. Richard und Hadley haben einmal ein paar Fotos von Gabriele angesehen, wirkten währenddessen auf mich aber immer irgendwie wie auf dem Sprung… So hab ich das bisher auf keiner Reise erlebt; unsere Models konnten eigentlich nie schnell genug die Bilder zu Gesicht bekommen und die Begeisterung war immer groß. Natürlich muss sich niemand für unsere Fotos interessieren – vielleicht bewerte ich das Fotografieren von Pferden ja auch über, aber es waren immer tolle Momente, wenn wir beisammen gesessen und die Fotos von den Shootings angesehen haben. Es hat Nähe geschaffen und Vertrautheit, und oft hatte ich das Gefühl, Freunde gefunden zu haben. Das war bei Karin in Andalusien so, bei den Forrestale in der Toskana und erst recht auf Hestheimar in Island! Heute fehlt mir irgendwie das Gefühl, bald und ganz dringend wieder herkommen zu müssen. „Ich hab dir gesagt, dass in Amerika alles anders ist und dass die Amerikaner nicht mit den Züchtern in Spanien oder Portugal zu vergleichen sind. Du wolltest mir ja nicht glauben. Europa und Südeuropa im Speziellen haben einen ganz anderen Spirit!“ Dass ich ihr nicht glauben wollte, ist nicht so ganz richtig – ich hab halt geglaubt, dass so etwas unter Pferdemenschen anders ausgeht. Vielleicht weiß ich jetzt, was es heißt, wenn man hört, dass die Amis oberflächlich sind… Vielleicht ist alles aber auch ganz anders….

Als wir an der geteerten Hauptstraße ankommen, sind meine komischen Gedanken aber schon wieder verflogen: Auf zu den Indianern und dem Yellowstone Park, auf zu neuen Geschichten und Erfahrungen.

Wir biegen nach links ab und folgen der Straße noch einige Meilen südwestlich Richtung Shoshoni. Unsere Fahrt führt uns um eine Gebirgskette herum, da es eine Verbindung über diese Berge nicht gibt. Die Landschaft rechts und links ist karg, fast wüstenartig, und wir vertreiben uns die Zeit mit Erzählungen. 

  In Shoshoni biegen wir Richtung Norden ab und lassen den Boysen State Park links liegen. Unser nächstes Etappenziel ist Thermopolis, das wir nur durch den Wind River Canyon erreichen können. Der Wind River hat ein so tiefes und breites Tal in den Berg gefressen, das nun sogar noch Platz für eine Straße bietet. Tiefrot ragen die Felsen an beiden Seiten in schwindelerregende Höhen hinauf – wir sind richtig beeindruckt und hätten auch hier gerne Fotos gemacht, aber die Straßenbaufirma hat die Buchten zum Anhalten vergessen. Schade! In Thermopolis müssen wir noch einmal die Straße wechseln, dann ist wieder Eintönigkeit angesagt.

Um ca. 14:00 Uhr haben wir die knapp 211 Meilen des heutigen Tages hinter uns gebracht und erreichen Cody, einen Ort im Park County im US-Bundesstaat Wyoming, der etwas mehr als 9000 Einwohner zählt. Cody wurde 1896 von William Frederick Cody gegründet, den die meisten besser unter dem Namen Buffalo Bill kennen.

Wir machen Station in Cody, da hier an diesem Wochenende ein großes Indianer-Powwow stattfindet, das wir fotografieren wollen. Gabrieles Information ist es, dass das Powwow den ganzen Tag stattfindet, weshalb wir die Gruppe zuerst zum Buffalo-Bill-Museum bringen, auf dessen Gelände das Fest stattfinden soll. Danach machen wir beiden uns auf den Weg zu unserem Hotel, dem „Beartooth Inn“, checken ein und laden das Gepäck aus. Außerdem nehmen wir uns die Zeit, noch schnell die Karten auszulesen und ein kleines Mittagessen beim großen goldenen M einzulegen; dann folgen wir den anderen.

Der Tanzplatz hat einen Durchmesser von ca. 60 Metern und ist umgrenzt von Betonquadern, die ungefähr Sitzhöhe haben. Rundherum im Innenraum haben die indianischen Teilnehmer ihre Zeltpavillons aufgebaut, außen herum sitzen die Zuschauer, teils auf mitgebrachten Campingmöbeln. Es herrscht ein so unglaublich buntes Treiben, dass wir den Rest der Gruppe erst nach längerem Suchen wiederfinden.

Ein Powwow ist ein Treffen nordamerikanischer Indianer (oder auch von Indianern mit Nicht-Indianern), um gemeinsam zu tanzen, zu singen, Kontakte zu knüpfen und die indianischen Kulturen zu ehren. Die Vorläufer der Powwows entstanden um 1850 bei den Ponca und Omaha als öffentliche Veranstaltungen von Kriegergesellschaften. Der Zweck dieser Veranstaltungen lag u.a. in der Stärkung der Gemeinschaft in psychischer und sozialer Hinsicht. Dies geschah durch die Entwicklung einer eigenen Identität der Gesellschaft in allen Bereichen des traditionellen Lebens und dem bewussten Umgang damit. Nach innen schuf man sich eigene Grundsätze, die man bei bestimmten Anlässen in der Öffentlichkeit demonstrierte. Deshalb wiesen diese Veranstaltungen militärische, religiöse, soziale, wirtschaftliche, rechtliche, didaktische, kulinarische, künstlerische, unterhaltende und andere traditionelle Aspekte auf, die genau auf die betreffende Kriegergesellschaft zugeschnitten waren. Es waren also typische Volksfeste. Als diese Völker gezwungen wurden, in Reservaten zu leben, verloren die Kriegergesellschaften ihre Bedeutung, jedoch wurden die Bestandteile des Volksfestes beibehalten und/oder weiterentwickelt. Wir besuchen heute eine Veranstaltung, die sich auf einem Wettbewerb aufbaut. Dafür gibt es verschiedene Arten von Tänzen mit verschiedenen Trachten und Regalia. Jeder Tanz hat seine eigenen festen Regeln, eigene Schrittfolgen, Tempi, Takte und seine eigene Entstehungsgeschichte. Allen gemeinsam ist ein fünfer Rhythmus mit der Betonung auf der Eins, der „Takt des Herzens“. Wir dürfen den traditionellen Tanz der Männer und der Frauen erleben, ebenso den Glöckchenkleidtanz der Frauen und den Fancy-Federtanz der Männer. Die Musik, zu der die Indianer tanzen, wird live unter den Pavillons gespielt. Dazu sitzen mehrere Männer im Kreis um eine flache Trommel herum und schlagen den Takt, wozu sie traditionelle Lieder singen. Mich erstaunt dabei am meisten, dass sich diese Lieder anhören wie in den einschlägigen Westernfilmen, bei denen man meint, dass diese Lieder lediglich aus Lala-Lauten bzw. aus „Heyjaja-heyjajaja!“ bestehen. Das ist aber weit gefehlt: diese Lieder haben Texte in indianischen Sprachen, und es gibt sogar Liederbücher, die gelegentlich zu Rate gezogen werden.

Es gibt einfach soviel zu sehen, dass ich gar nicht weiß, wohin ich zuerst gucken soll, geschweige denn, was ich zuerst fotografieren soll: Die Kostüme bestehen aus tausenden von Perlen, Federn und Bändern – leider findet hier das Plastik zunehmend Verwendung. Ein Tänzer sieht auch ein wenig so aus, als hätte er zu lange im Lamettaschrank meiner Oma gewildert… Der Fantasie der Indianer scheinen keine Grenzen gesetzt zu sein, und über den Preis eines solchen Kostüms wage ich gar nicht nachzudenken. Einer der Tänzer entwickelt sich zu unser aller Favorit: Er ist schon älter, hat ein wettergegerbtes, sehr ausdruckstarkes Gesicht und strahlt für mich eine ungeheure Autorität aus. 

Gabriele treibt mich an zu fotografieren: Tänze, Gesichter, Details und Stimmungen soll ich einfangen… 

    Dabei fällt mir auf, dass die Tänze für die Indianer nicht einfach nur eine Touristenbespaßung zu sein scheinen, sondern tatsächlich noch spirituelle Bedeutung haben, denn die Gesichter sehen oft sehr entrückt aus, die Tänzer scheinen sich ganz der Musik hinzugeben.       Mir ist irgendwann ganz schwindelig von all den Eindrücken, und Gabriele und ich gehen der besten Mädchenbeschäftigung nach, die es gibt: Shoppen! In einem weiteren Kreis um den Tanzplatz herum haben sie Stände aufgebaut, an denen man allerlei traditionellen Schmuck, Holzschnitzereien, Dreamcatcher, Kunst und Einzelteile für die Kostüme erwerben kann. Als wir einmal alle Stände gesehen haben, habe ich meine Mitbringsel fast vollständig zusammen….

Um 19:00 Uhr sind wir mit der ganzen Gruppe zur Lagebesprechung verabredet. Einige möchten ins Hotel und von dort aus eine Gelegenheit für das Abendessen suchen – Gabriele und ich besuchen, nachdem wir die anderen am Hotel abgesetzt und die Koffer verteilt haben, die heutige Rodeoveranstaltung in Cody, die um einiges größer sein soll als die in Dubois.

Das stimmt auch, und außerdem sieht hier alles etwas professioneller aus als in der kleineren Stadt: Die Paddocks und Laufwege bestehen aus metallenen Zäunen, und das Handeln der Männer scheint weniger profilneurotischen Zwängen zu folgen. Diese Professionalität hat aber auch leider zur Folge, dass wir nicht so nah an die Arena herankommen wie in Dubois. Nach einigen Probefotos von der großen Tribüne herunter, 

        die sogar Gabriele mit der 300er Festbrennweite keine formatfüllenden Fotos bringen, beschließen wir, den Tag zu beenden. Auf dem Weg zum Ausgang nehmen wir nicht denselben Weg, den wir gekommen sind, sondern umrunden die Arena weiter. Am Ende des Ovals angekommen öffnet sich der Weg zu den Vorbereitungsplätzen, an denen wir noch ein wenig fotografieren. Außerdem hält uns niemand auf, als wir zu den Startboxen für die Lassowettbewerbe gehen. Mir ist bald schon ganz schlecht, weil ich mir sicher bin, dass wir von dort wenige Minuten später garantiert mit Schimpf und Schande verjagt werden. Gabriele jedoch bewegt sich an den Teilnehmern vorbei, als sei sie dort zu Hause und als sei es das Natürlichste der Welt, an den Zaun heranzutreten und zu fotografieren. Immer wieder ein Erlebnis! Ganz vorne an den Absperrungen fotografiert ein Typ mittleren Alters fleißig das Geschehen in der Arena. Ich finde ihn jetzt auf den ersten Blick nicht sonderlich sympathisch, außerdem erwarte ich immer noch die Security, die uns rausschmeißt, aber das sind Gedanken, die nicht zu Gabrieles Motivationen zählen: sie quatscht den Typen einfach an. Die beiden unterhalten sich eine Weile sehr angeregt und das Gespräch endet mit der Entgegennahme einer Visitenkarte und dem Versprechen, doch irgendwann mal etwas gemeinsam zu organisieren, was das Fotografieren von Rodeos angeht. Ich werde derweil damit beschäftigt, ein Problem im Umgang mit meiner Kamera zu lösen: Ich soll anhand der Sternchen-Taste an meiner Kamera die Belichtung speichern und dann  den Ausschnitt verändern…. Ich bin zu müde… oder zu blöd! 

Als wir uns wieder zum Gehen wenden, steht ein paar Schritte entfernt eine hübsche, junge, blonde Amerikanerin, die sich wartend auf das Horn eines Westernsattels gestützt hat. Gabrieles nächstes Opfer! Dass Gabriele die Kamera mit dem riesigen Objektiv vor ihr Gesicht nimmt, hat sie quasi reflexartig bemerkt, richtet sich auf und setzt ihr allerstrahlendstes, weißgebleachtes Lächeln auf – mir fällt die Kinnlade herunter: Da sitzt ganz plötzlich die ganz junge Britney Spears auf dem Pferd. Unglaublich!  

Und da ist es auch wieder ausgesprochen präsent, das Ami-Vorurteil: austauschbar, maskenhaft, oberflächlich… Dabei ist sie bestimmt im wahren Leben ganz nett. Kaum hat Gabriele ein oder zwei Mal die Kamera ausgelöst, taucht aus dem nichts eine zweite Schönheit auf, diese ist jedoch brünett.   Auch ich lichte die Damen einige Male ab, kann jedoch kein richtiges Verhältnis zu der Situation aufbauen.   

Also machen wir uns dann wirklich bald auf den Weg zurück zum Hotel, unterbrochen von einem kleinen Stopp bei einer amerikanischen Fast-Food-Kette, die irgendwelche scharfen Gemüsetortillas anbietet. Im Hotel angekommen spulen wir das übliche Prozedere ab: Karten auslesen, duschen, bettschön machen. Als ich im Bett liege und mir die Augen zufallen, tanzen vor meinen Lidern viele wilde bunte Punkte herum und in den Ohren rauscht ein immer wieder kehrendes „heyjajaja heyjajaja ja“ und ganz hinten im Kopf versucht ein einziger Gedanke die Oberhand zu gewinnen: Wo war eigentlich Winnetou?

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